Weihnachten 1998 bei meiner Schwiegermutter

 

 

Es war beinahe wie jedes Jahr, der vierte Advent rückt näher, die Zahl der noch zu besorgenden Geschenke scheint größer statt kleiner zu werden und dieses Jahr wird es was ganz besonderes! Richtig, frisch verliebt mit meiner zukünftigen Frau und den beiden Jungs um mich herum war nur sicher, dass es völlig anders werden wird.

 

Es war geplant, zusammen mit der ganzen Familie bei Schwiegermutter im Haus Heilig Abend zu feiern. Das bedeutet, dass sich in den zwei  kleinen Zimmern meiner zukünftigen Schwimama mehr Menschen bewegen werden, als man sich vorstellen kann. Das wären also meine Schwiegermutter Gerarda mit Lebensgefährte Ralph, Ich mit meiner Zukünftigen Claudia und den Kindern Marcel und Kevin, Renate mit Michi und Rafael, Dani und Sandi, Rudi und Manu mit Kinder Isabelle und Nadin. 9 Erwachsene und 6 Kinder zwischen 7 und 12 Jahren. Wie überhaupt auf den wenigen Quadratmetern sowas unter zu bekommen ist, kann glaube ich heute kaum mehr einer nachvollziehen, die Kinder um den Couchtisch aufgereiht, mit dem bekannten Zerfereien, wie sie unter Kindern abgehen und im Esszimmer die Erwachsenen, wie eine Presspassung um den Tisch herum. Aber bitte nicht vergessen, einen Weihnachtsbaum gab es auch noch und es standen auch noch Möbel in den Zimmern.

 

Die Begrüßung war sehr herzlich, jeder wurde begrüßt mit Umarmung und Küsschen, die Jacken und Mäntel stapelten sich an der Garderobe und das freudige Gekreische der Kinder legte den Lautstärkepegel gleich entsprechend fest.

 

Schwiegermutter stand als Chefkoch und Hauptkoordinator in der Küche und Jonglierte gleichzeitig mit Suppe, Braten, Nudeln Kartoffelsalat, grünem Salat und Nachtisch, dass man eigentlich den Wunsch hatte, ihr etwas zur Hand zu gehen. Doch Claudi schob mich gleich mal durch Richtung Wohnzimmer und meinte nur: Wenn du Mama nicht auf die Palme bringen willst, dann halte dich in ausreichendem Abstand zur Küche auf, denn das ist ihr Revier und heute hat sie dort das Kommando! Okay. Italienisches Regierung eben.

 

Alle zusammen bewegten sich in diesen beiden kleinen Zimmern in perfekter Abstimmung. Hier konnte keiner ohne die Hilfe des Anderen seinen Platz verlassen oder ausladend agieren. Das war familiärer Zusammenhalt! Zu allem Übel waren bei dieser Menge Leute dann auch noch insgesamt 5 Raucher dabei, die ja in regelmäßigen Abständen aus der Runde raus wollten um der Sucht zu frönen. So drängte sich dann bis zum Essen 5 Leute auf dem Flur herum am offenen Fenster, um nicht die ganze Wohnung einzunebeln, Nachteil dabei, die verbleibenden in den kleinen Zimmern heizten diese derart auf, dass die Luft zum Schneiden wurde. Endlich der Ruf zum großen Essen, Suppe wurde serviert und so langsam wurde das laute Gerede in ein leises Essgeräusch gewandelt. Jeder klapperte mit seinem Löffel und meine Schiegermutter sorgte für Zu- und Abfuhr der Suppenschüsseln und Teller.

 

Mitten in diesem Treiben, dem weiterreichen der Teller, gleichzeitig entgegen nehmen des Salates, der dann aus Platzgründen sofort in die Salatteller verteilt wurde, kam natürlich das Leben der Kinder. Hier ein verärgertes Brüllen, gefolgt von Weinen, weil ja der Eine wieder dem anderen etwas angetan hat und dann keine Chance richtig eingreifen zu können, weil ja keiner wirklich von seinem Platz wegkam. Hier hilft also nur noch, schnell das Essen auffahren und die Mäuler zu stopfen, dann ist Ruhe!

 

So eine zusammengepferchte Gruppe hat aber auch den Vorteil, dass man sich nicht zu lange nach irgendwelchen Sachen umschauen muss. Der Erste nahm zum Beispiel den Kartoffelsalat entgegen und hielt ihn in der Hand, das der Zweite sich herausnehmen konnte, dann nahm dieser die Schüssel und  bot dem Dritten an und so weiter wanderte die Schüssel einmal um den ganzen Tisch, bis jeder versorgt war. Schwiegermutter hatte das Timing im Griff, brachte die große Platte mit den Spätzle, reichte diese in die Runde und nahm die leere Schüssel gleich wieder mit.

Ich als Neuling erkannte sofort, hier handelt es sich um eine eingefleischte und lange bewährte Versorgungtechnik, die jeden im Verlauf des Abendessens satt machen würde.

 

Wer jetzt aber glaubt, dass man hier zu kurz kommen könnte, der hat sich geirrt. Ich machte in diesem Jahr den Fehler, dass ich mehr oder weniger ohne Pause so lange nachschöpfte, bis ich also restlos satt war. Das war aber die Rechnung oder Schwiegermutter. Heute noch habe ich Ihre Worte mit dem süßen italienischen Akzent in den Ohren: Wilscha du nix mehr? Hadde dir net geschmeckt? Jetzt auf, da hasche no eine Stickle Fleisch….Dani, gibbsch du mol die Spätzle rum, d´r Stefan hat no Hunger… So lernte ich an diesem Abend, dass man bei Schwiegermutter bereist nach 2/3 Sättigungsgrad anfängt, langsam zu tun, um sich dann nochmal ohne Probleme breit schlagen zu lassen, noch einen Nachschlag entgegen zu nehmen.

 

Nicht vergessen, es gibt ja auch noch einen Nachtisch….

 

So restlos gesättigt kam dann eine gewisse Trägheit zustande, die in allgemeiner Runde nur noch ein Stöhnen und Lachen auslöste, wenn man sich nur anschaute. Da war der Verdauungsschnaps eine wohlwollende Erlösung, auch wenn man wusste, dass sie das Problem nicht löste, sondern nur betäubte.

 

Die Frauen verzogen sich nun in die Küche und halfen den Abwasch zu machen und die Reste gleichmäßig zu verteilen, damit jeder für den Folgetag noch etwas zu essen hatte. Das war ganz wichtig, denn vielleicht hat ja jemand an diesem Tag nicht genügend abbekommen. Ja, Schwiegermutter achtete schon darauf, dass bei ihren Festen keiner verhungerte…

 

Nach diesem Abendessen kam dann ein wichtiger Teil der Tradition: Alle zogen sich an und man machte sich gemeinsam auf zum Friedhof ans Grab vom Schwiegervater. Zum Einen tat etwas Bewegung nach dieser Völlerei sehr gut und auch die frische Luft sorgte wieder dafür, dass jeder wieder lebendig wurde. Unglaublich, wie schnell 15 Menschen in zwei kleinen Zimmern die Luft verbrauchen und aufheizen können. Auf dem Friedhof versammelte man sich um das Grab vom Schwiegervater, legte ein paar geschmückte Tannenzweige nieder und gedachte einen Moment an den Verstorbenen. In diesem Moment des Schweigens bekam Weihnachten für mich einen ganz besonderen Flaire, eine ganz neue Bedeutung, weil ich dieses so nicht kannte. Hier spürte man in geschlossener Runde, dass wirklich jeder in diesem Moment an Schwiegerpapa dachte und seine Wünsche in den Himmel schickte.

 

Zurück im Haus kam die Bescherung. Berge von Geschenken wurden herumgereicht, löste glänzende Augen aus, aber auch sehr überraschte, wenn man dann doch noch ein Geschenk aus dem Ärmel „zauberte“. Überall wurde ausgepackt, zerrissen, zerknüllt und von den Kindern lautstark die Geschenke kommentiert! Jubel, Trubel, Leben, 10 Mal Danke, 20 mal gerne geschehen, Drücken, Umarmen, Freudentränchen, ein Moment, an dem die Welt hätte nicht schöner sein können. Die Kinder versanken gleich in ihre Welt der Spiele und Geschenke, die Erwachsenen setzen sich zurück an den Esstisch und der gemütliche Teil des Abends begann. Aber auch hier lernte ich die zweite Tradition im Hause meiner Claudia kennen: Es war üblich, dass nach der Bescherung zusammen gesessen wurde zum Karten spielen. Ich weiß heute nicht mehr, wie das Spiel hieß, weil ich kein wirklicher Kartenspieler war, aber man wurde gleich von beiden Seiten unterwiesen, wie man was zu spielen hatte, aber auch für Fehlwürfe mit italienischem Temperament überzeugt, das nächste Mal doch besser aufzupassen…

 

 

Zu vorgerückter Stunde kippte dann langsam bei den Kindern die Stimmung. Die müden Seelen neigten dann mehr zum Streit, kamen wegen jeder Kleinigkeit weinend an und so endete das Fest so um Mitternacht. Man packte Kind und Kegel zusammen, verstaute alle Geschenke im Kofferraum, prüfte noch mal genau nach, dass ja keines vergessen wurde, verabschiedete mit Umarmung und Küsschen von der ganzen Familie und machte sich auf den Heimweg. Alle waren fix und fertig, die Kinder schliefen damals auf der halbstündigen Heimfahrt noch ein und auch das Radio wurde leise gedreht, weil jedem von uns noch die Ohren Klingelten wie nach einem Discobesuch. Leise schnurrte das Auto am Neckar entlang nach Hause, es war nur wenig Verkehr unterwegs und die meisten Ampeln waren ausgeschalten. Es war schön, es war ein Weihnachten, das mich an meine Kindheit erinnerte, an ein viel zu volles Wohnzimmer, an viel zu laute Erwachsene und ein umfangreiches Essen. Ja, es war schön und ich erinnere mich gerne zurück. Wenn ich könnte, ich würde gerne die Zeit zurückdrehen um nochmal dabei sein zu können…