Verpennt und verpeilt

 

 

Ich war gerade aus den Federn gekrochen als das Telefon schellte und mich aus dem Morgentrott brachte. Schlaftrunken stolperte ich von der Küche ins Wohnzimmer und suchte zwischen Fernbedienung, Taschenrechner, Fernsehzeitung und Obstschale das Telefon in der Hoffnung, ich finde es noch, bevor der rettende Signalton vorbei ist. Wieder erwartend war ich schnell genug, drückte auf die grüne Taste und meldete mich mit einem verschlafenen „jooooaaa??“

 

Nach längerem Schweigen meldete sich dann eine Stimme: „Hey, Stefan, bist du es?“

„ Ja, so kurz nach Mitternacht um halb neun darf man nicht zu schnelles Reagieren von mir erwarten!“

 

Es war Andreas, mein Studienkollege, mit dem ich so manche Zeit außerhalb der Fachhochschule verbrachte und mich so richtig in alte Radios, Funktechnik und Signalübertragung verlieren konnte. Gut, manchmal auch etwas zu viel, sodass für eventuelle Übungsaufgaben keine Zeit blieb…

 

„Du…. Schlafmütze…. Denkst du noch an unseren Termin nachher? Wir wollten doch zusammen in die Stadt fahren auf den Technikflohmarkt!“

 

Siedendheiß lief es mir in diesem Moment den Rücken hinunter…. Verflixt…. Gerade mir als Pünktlichkeitsapostel war das sehr peinlich, eine Verabredung verpasst zu haben. Aber so richtig verpasst und vergessen, das ist mir schon lange nicht mehr passiert. Ich am Telefon aber so völlig überzeugt: „Nö, du, alles im Plan! Keine Panik!“

 

Andreas: „Soso, dann erkläre mir bitte, wie du in 10 Minuten von dir zu mir und dann in die Stadt fahren möchtest, einschließlich Parkplatz suchen und dann zum Treffpunkt laufen????“

 

Ich“ äääähhh…. Öööhm… ja… ??? Wieso? (Und jetzt perfekt gelogen) Termin ist doch erst in über einer Stunde???

 

Ich will euch jetzt nicht langweilen mit dem weiteren Gesprächsverlauf, es reicht völlig, dass ich praktisch im Eiltempo mit Lichtgeschwindigkeit durchs Badezimmer flitzte (Die körperliche Reinigung wurde auf Zähne putzen reduziert, Körperpflege wird eh völlig überbewertet….), einmal einen Satz neue Klamotten überzog, Geldbeutel, Zigaretten (Damals qualmte ich noch), Autoschlüssel, Tragetaschen, Hausschlüssel schnappte und mehr fliegend als gehend die 5 Treppen nach unten rannte, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren.

 

Auf den letzten Metern zum Auto kamen mir dann noch kurz ein paar Worte meines Vaters in den Kopf: Wenns auch noch so dringend ist, fahre langsam! Die zwei Minuten reißen es nicht raus! Rein ins Auto, Motor gestartet, rückwärts raus aus der Garage und sehr gezügelt los gefahren. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich die Spielstraße im Schritttempo durchgefahren war und endlich auf der Hauptstraße auf Normalgeschwindigkeit beschleunigen konnte. Mittlerweile brannte die obligatorische Autofahrzigarette und das Radio bollerte meine Musik von der Kassette. (Ja, damals war das noch eine Standardausstattung der Radios, Musikkassettendeck!) als ich 100m vor der Ampel die Entscheidung treffen musste, welcher der beiden möglichen Wege denn um diese Uhrzeit der Bessere wäre. Veni, vidi vici, ich kam, sah und siegte, oder alea iacta est, die Würfel sind gefallen, die Ampel der Linksabbiegespur wurde grün, also keine Frage, welchen Weg ich nehmen werde.

 

Das diese Entscheidung weitreichende Folgen haben wird, was meine Zeitplanung betrifft, sollte sich schon kurz nach der nächsten Abzweigung zeigen. Kaum abgebogen stand der Verkehr, weil ein großer Lastwagen versuchte, rückwärts vor einem Supermarkt auf den Parkplatz zu fahren. So gesehen wäre es nicht schlimm gewesen, aber er hatte einen Anhänger dran, sodass es rein von der Längenabschätzung nicht reichen konnte. Man durfte also davon ausgehen, dass er noch eine ganze Weile die Straße blockieren würde. Aber kein Problem, man kennt sich ja aus…. Ich scherte aus, fuhr an ein paar Autos vorbei und bog dann in eine kleine Seitenstraße ab, die zu einer Parallelstraße führt. Dass diese kleine Straße nur für Anlieger ist, war mir durchaus bewusst, aber warum sollte ausgerechnet heute hier um diese Uhrzeit eine Polizeistreife unterwegs sein?

 

Sie war. Und sie war sehr Pflichtbewusst. Rote Kelle, rechts ran und die bekannte Tortour der Fahrzeugkontrolle. Mir war klar, jetzt wird alles deutlich später. Und nein, Handy gab es damals noch nicht und mein Studienkollege war kein Funkamateur! Später, viel später, also nach Kontrolle von Fahrzeugschein, Führerschein, ABE für Spoiler, Scheinwerfer und Felgen, Profiltiefe, Verbandskasten, Warndreieck, Funkgerät, dem nicht ganz originalem Auspuff und einer nicht mehr endenden wollenden Belehrung über den Nutzen von Verbotsschilder und deren Einhaltung bekam ich dann meine Papiere zurück und durfte ohne Knöllchen sogar weiter fahren.

 

Natürlich kochte ich innerlich über diese Drangsaliererei der Polizei, die Pingeligkeit und überhaupt und sowieso, also ab durch die Mitte Richtung Stadt. Die Straße zieht sich hier durch ein längeres Wohngebiet, an dem viele Seitenstraßen einmünden. Früher hatten die alle Vorfahrt achten und die eigentliche Straße war Hauptstraße. Nur, seit einiger Zeit ist ja das Thema Verkehrsberuhigung Hauptwahlkampfthema unseres Bürgermeisters und somit war ich auf dieser Straße zu zig-maligem rechts vor links verdonnert.

 

Eine halbe Ewigkeit später dann endlich auf der Hauptstraße, wieder auf der Straße, die mich Richtung Stadtmitte bringt unterwegs. Ich war nicht allzu schnelle… also so gefühlt…. So knapp über 60 km/h, denn es war ja eine breite, ausgebaute Fahrbahn. Und überhaupt fährt hier ja jeder immer schneller als 50! Nur leider war ich heute „Jeder“ und mich erwischte der rötliche Blitz aus dem Kombi heraus. Dies war zu viel. Noch kaum die Kontroller richtig verarbeitet war dies dann die Krönung des Tages! Zum Glück war es nur ein Blitz und nicht gleich mit einer Fahrzeugkontrolle verbunden, denn diese Zeitverzögerung hätte ich wirklich nicht mehr brauchen können.

 

Nach ungefähr 20 Minuten hatte ich dann vor dem Haus Andreas aufgegabelt und wir fuhren zurück in die Stadt. Natürlich muss man ja so eine Geschichte erst mal los werden und ich erzählte und erzählte und als Andreas mich unterbrechen wollte (er fuchtelte dabei auch so komisch mit den Händen in der Luft herum) Maßregelte ich ihn erst noch, damit ich nicht aus meinem Redefluss herauskam. Ich plapperte und plapperte und erst in dem Moment, in dem ich auf den Parkplatz der Fachhochschule eingebogen bin, wurde mir klar, was die Aktion vorher sollte. Ich stieg erschrocken auf die Bremse und starrte die geschlossene Schranke an. Andreas saß nur breit grinsend auf dem Beifahrersitz und sagte nichts. Mir war in diesem Moment klar, es wäre besser gewesen im Bett zu bleiben. Ich bin natürlich nicht in die Stadtmitte gefahren, wo der Flohmarkt stattfindet, sondern schön durch die Stadtmitte hindurch, am geplanten Parkhaus vorbei den Berg hinauf Richtung Hochschule. Ich zeigte sogar noch die Stelle, an der der Blitzer aufgebaut war! Ich hatte mich so in Rage geredet, dass in diesem Moment nicht mehr der Verstand steuerte, sondern die Gewohnheit. Und die war auf Studieren gepolt und abgespeichert.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich mit diesem Schmach leben musste, bis mir dieses Vergehen nicht mehr aufs Brot geschmiert wurde. Ich weiß aber auch, dass ich seitdem nie wieder so in Hetze mit allen Mitteln versucht habe, irgendwelche Sekunden wieder aufzuholen, nur weil es irgendwo klemmte.

 

 

Und das Zusatzschild unter dem Verkehrszeichen heißt „Anlieger frei“ und nicht „Anlüger frei!“